Meine Kollegin Sophie und ich fahren manchmal mit der selben Straßenbahn zur Arbeit. Ich hatte an dem Tag gerade ein Buch von meinem japanischen Lieblingsautor Murakami beendet. Die Handlung war wirr und zudem unnötig brutal. Ich brauchte also ein Buch für unseren dritten Urlaub im Alf Leila Wa Leila. Also fragte ich Sophie nach einem Buchtipp für mich.
Sophie, ich suche etwas leichte Unterhaltung. Vielleicht sogar etwas Witziges. Und bitte nicht so lang. Ich habe parallel zu Murakami den aktuellen Dan Brown Thriller Origin verschlungen. Vielleicht sowas in der Art?
Ich
Als konkrete Empfehlung bekam ich von ihr Wild Swans. Three Daughters of China von Jung Chan. Also habe ich mir das Buch abends auf der Heimfahrt direkt für meinen Kindle Paperwhite gekauft. Nur Beschreibungstext hatte ich überflogen. Was kann da schon schiefgehen?
Nachsitzen im Fach Geschichte
Bei Wild Swans handelt sich um eine historische Autobiografie über eine Familientragödie in China von 1909 bis 1978. Schlauere Leute als ich hätten bei den Stichworten 20. Jahrhundert und China sofort an den Kommunismus bzw. Maoismus gedacht. Was meine Kollegin nicht wusste: Ich bin nicht mit historischem Wissen gesegnet. Ich wusste gerade mal, dass ein Mao-Bildnis in gigantischer Größe auf irgendeinem Platz in Peking hängt. Asche über mein Haupt. Aber natürlich habe ich trotzdem weitergelesen.
Foot Binding
Das Buch beginnt mit der Geschichte der Großmutter der Familie Chang am Anfang des 20. Jahrhunderts. Direkt auf den ersten Seiten wird erklärt, dass es damals als Schönheitsideal galt, den Frauen als Baby die Füße zu brechen. Wer sich, wie ich damals in der Bahn, den Tag versauen will, der scrollt weiter und schaut sich weiter unten das Bild zu den Bound Feet an.
Weil die Familie sehr arm war, wurde die Großmutter der Autorin in jungen Jahren als Konkubine an einen Warlord versprochen. Ihr Leben war von nun an durch Einsamkeit und Angst geprägt.An dieser Stelle habe ich erstmal aufgehört zu lesen.
Ist dies das falsche Buch?
Das soll „leichte Unterhaltung“ sein? Am nächsten Tag habe ich dann dann bei Sophie nachgefragt, ob ich das richtige Buch lese. Die Antwort war: Ja, das würde nachher besser und würde ein gutes Ende nehmen.
Ich habe dann ehrlicherweise angefangen andere Bücher zu lesen. Aber irgendwas hat mich dann immer wieder zurück gebracht nach China zu den Wilden Schwänen. Vielleicht liegt es daran, dass die Dinge in dem Buch wirklich passiert sind und es sich nicht um eine ausgedachte Horrorstory handelt. Wie bei einem Unfall, bei dem man eigentlich nicht hinsehen sollte aber man es dann trotzdem tut.
Keine Ahnung vom Maoismus
Sobald die Geschichte zeitlich bei der Autorin selber angelangt ist, gibt das Buch erst richtig Gas. Das ist erst nach der Hälfte des Buches der Fall. Vorher zieht sich die Handlung dann doch sehr aber danach konnte ich es zumindest bis zum Ende nicht mehr weglegen. Macht dieser Umstand das Buch zum Dark Souls der historischen Autobiografien?Wer nach diesem, für die meisten Leser sicherlich unverständlichen, Witz noch weiterliest: Herzlichen Glückwunsch.
Die Grausamkeiten, die sich China durch die kommunistische Gehirnwäsche im Grunde selber angetan hat, waren mir nicht bewusst und werden hier in allen Details und mit den Zusammenhängen dargestellt und erklärt. Millionen Chinesen sterben alleine an einer Hungersnot und den Folgen der Cultural Revolution. Dabei ging es im Kern immer nur darum, die Bevölkerung in Terror zu versetzen.
Die Protagonistin durchschaut die Taktik der Machthabenden als Kind natürlich nicht. Dadurch wird ihr „Erwachen“ im Verlaufe ihrer Jugend für mich als Leser nachvollziehbar und verständlich. Ich habe mich tatsächlich schon immer gefragt, wie solche durch Politik hervorgerufenen Grausamkeiten überhaupt passieren können. Nach dem Buch habe ich nun zumindest eine grobe Idee davon bekommen.
Das Nachwort ist der spannendste Teil
Das Buch endet mit der Abreise von Jung Chang nach Großbritannien. Das Nachwort erzählt dann aber noch, wie es ihr dort ergangen ist und wie sie überhaupt zu einer Autorin wurde. Die letzten 30% des Buches haben mich in der Sonne Ägyptens nicht mehr losgelassen. Ich habe sie regelrecht verschlungen.
Scheusslich gut
Insgesamt hat das Buch trotz aller Grausamkeiten tatsächlich viel Positives. Hoffnung auf Besserung und der Wille immer weiterzumachen um dem Horror zu entfliehen, haben sich am Ende ausgezahlt. Am Ende hatte meine Kollegin dann doch recht: Es ist ein spannendes Buch, dass man durch die geschichtliche Nähe einfach gelesen haben muss. Vor allem wenn man so wenig Ahnung davon hat wie ich. Danke Sophie. Nun brauche ich ein neues Buch.
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